Erinnerung an Johannes Wetzel
11.07.1903 - 12.08.1976

Johannes Wetzel - einer der sportlichen, jüngeren Lehrer an unserer Schule, der Rudolf Steiner Schule Hamburg, wie die 1922 gegründete Freie Goehte-Schule, die erste Waldorfschule in Hamburg, nach dem Kriege umbenannt worden war.
Er fiel durch seine flinke umsichtige Bewegung auf dem Schulhof inmitten seiner Klasse oder in den Korridoren des durch Bomben schwer beschädigten Schulhauses auf. Unsere laute Klasse war eigentlich nur durch unserem Klassenlehrer, Herrn Werner Lamp, im Zaum zu halten. Hatte Herr Wetzel mal zu vertreten, waren wir allerdings friedlich, ohne dass er auch nur irgendein damals übliches Disziplinierungsmittel einzusetzen brauchte (körperliche Züchtigung: Backpfeifen und Prügel wurden erst Mitte der 50er Jahre verboten). Es war für uns immer interessant, wenn er erzählte oder feinere Grammatikfragen anschnitt. Erinnere zum Beispiel die Frage nach dem Genitiv von "der Hirsch" - des Hirsches vermuteten wir - auf "des Hirschen" wies er uns hin. Besonders schätzten wir, wenn er aus der Studienzeit in Berlin in den 20er Jahren berichtete. So erzählte er von Alfred Wegner, dem Schöpfer der Theorie der Kontinentalverschiebung. Zur Vorbereitung auf seine letzte Grönland-Expedition fuhr Alfred im tiefen Winter mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und kurzer Hose mit den Rad in die Universität. So versuchte er den Körper auf das dauerkalte Grönlandklima einzustimmen.
Mit einem Studienkameraden hatte Johannes Wetzel sich in den Semesterferien auf eine Radtour durch Deutschland begeben. Eben unterwegs, begann der Kamerad über heftige Zahnschmerzen zu klagen. Sie fanden eine recht junge Zahnärztin, die eine dauerelastische Füllung vornahm und damit die Schmerzen behob. Diese Übergangsfüllung sollte durch eine endgültige nach Ende der Reise durch eine Amalgam-Füllung ersetzt werden. Im Badischen hatten sie sich frische Weintrauben gegönnt. Und der Kamerad hatte sich einen Traubenkern beim unbedachten Zubeißen in die elastische Kaufläche der Füllung gedrückt. Was tun? Johannes Wetzel hatte bald heraus, dass so ein Kern leicht mit der Spitze des Fahrtenmessers entfernt werden musste. Auf eine solche abendliche Prozedur unter dem Licht einer Straßenlaterne wurde ein Polizist aufmerksam und wollte einschreiten. Es bedurfte der Aufwendung wortreicher Erklärung, um ihn von der Friedlichkeit der Behandlung zu überzeugen.
Es wird während des 11ten Schuljahres gewesen sein, als Jens und Uwe Hansen-Schmidt und ich von Herrn Wetzel gefragt wurden, ob wir beim Transport von Möbeln helfen wollten. Am Güterbahnhof Wandsbek sollte aus einem Wagon in einen kleinen Lieferwagen mit Plane umgeladen werden. Während der Fahrt zu den einzelnen Entladeorten fuhren wir zwischen den Möbeln unter der Plane mit. Vor einer Kreuzung gab es einen Halt. Nun war das Verkehrsaufkommen Anfang der 50er Jahre noch sehr gering. Wir hörten die Fahrertür klappen und lugten unter der Plane hervor. Herr Wetzel stand mitten auf der Kreuzung und regelte den Verkehr, bis die Fahrzeuge abgefahren und wir weiter konnten. "Na ja," sagte er nur, "haben wir doch beim Militär gelernt!"
Wie viele seiner Altersgenossen auch, vermied er es aber konsequent, aus der Kriegszeit zu erzählen.
Eine letzte Begegnung: Anfang der der 90er Jahre war ich in Hamburg für die Schulbühnen-Beleuchtungsanlagen zuständig, die von der Kasseler Waldorfschule hergestellt wurden. Nachdem ich gelernt hatte die Anlage in unserer Schule soweit verstanden hatte, dass ich auftretende Fehler zu reparieren verstand. So hatte ich häufiger im Steinerhaus für Bühne und Eurythmieschule zu tun. Als ich mittags nach einer gelungenen Reparatur das Steinerhaus wieder verlassen wollte, sah ich ein älteres Ehepaar dabei eine Gemäldeausstellung einzrichten. Als ich genauer hinsah, meinte ich Herrn und Frau Wetzel zu erkennen. Ich hatte mich nicht getäuscht, und es ergab sich ein Gepräch, während weitere Aquarelle an die Tafeln gepinnt wurden. Frau Wetzel war in ihrer Erinnerung nicht mehr ganz sicher. Selber hatte ich allerdings nie bei ihr Unterricht gehabt. Aber Herr Wetzel erinnerte sich deutlich an unsere Klasse, die ja nach dem 10ten Schuljahr kaum noch 20 Schüler umfasste. Dabei eirinnerte ich mich auch deutlich an die Kohlezeichnungen, die Herr Wetzel 1947 vom bombengeschädigten Schulgebäude angefertigt hatte. Mit dem Verkauf dieser Zeichnungen hoffte man, Gelder für die Wiederinstandsetzung einzuwerben. Dies gelang aber leider mit sehr geringem Erfolg.

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